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Nach dem 11. September


ein anderer Rundgang durch die art cologne im November 2001
in: Kunstforum International, Bd. 158, Jan. / Febr. 2002

 

Nahezu eineinhalb Monate nach dem Terroranschlag in New York und Washington am 11. September fand die art cologne statt. Auch hier war der Anschlag ein zentrales Thema –vor allem in den Gesprächen und dem geäußerten Gefühl der Betroffenheit, das bei vielen auch Auswirkungen auf die Kunstrezeption und die Verkaufsbillanz hatte. Wer sich frei machen wollte von den Ereignissen, kam dennoch auch auf der art cologne nicht am Geschehen vorbei.
Eine Videoarbeit von Julius Deutschbauer & Gerhard Spring bei der Galerie Steinek zeigt zwei Männer ähnlichen Typs, die inmitten der Hochhauskulisse der Manhattan Skyline vor strahlend blauem Himmel auf und nieder hüpfen. In dieser digitalen Montage sind die zwei Männer nahezu doppelt so groß wie die Hochhäuser.
Die gleiche Kleidung (schwarzer Anzug mit weißem Hemd) und die gleiche Körperhaltung erwecken zunächst den Eindruck, es seien Zwillinge und es wird klar, dass es sich bei dieser Arbeit um eine Antwort auf den Terroranschlag auf die Twin-Towers des World Trade Centers (WTC) am 11. September handelt.
Was haben zwei lustig in die Luft hüpfende Männer in einer Hoch-hauskulisse mit der Ernsthaftigkeit des real passierten Anschlags und dessen tiefgreifenden Folgen zu tun? In dieser Arbeit mit dem Titel "Die Stellvertreter" (die auch als Fotoarbeit produziert wurde) stellen die zwei Künstler sich selbst dar. Stellvertretend zu den nicht mehr vorhandenen Türmen wollen sie also dem Betrachter deutlich machen, dass nun diese zwei Hochhäuser fehlen. Oder wollen sie gar versuchen, mit ihren Luftsprüngen diese Lücke – zumindest imaginär - ersetzen? Können Menschen Architekturlücken füllen? Können sie trotz ihrer sehr sportiven Art die Höhe des nun fehlenden WTC erreichen? Wohl kaum. Aber das künstlerische Konzept von Deutschbauer & Spring sieht eine stellvertretende Nachahmung vor – in dieser Arbeit und in den vorangegangenen. In ihrem Kommentar zu der Foto- und Videoarbeit heißt es: "Mitgerissen von den allgemeinen Trauerbezeugungen haben auch wir uns bemüßigt gefühlt, unserer Trauer Ausdruck zu verleihen, indem wir das Bild `Die Stellvertreter´ schufen, um für den Verlust des WTC so schnell wie möglich Ersatz zu leisten." Die Fotoarbeit schalteten sie mit einem Anzeigentext am 14.9.01 in "Die neue Kronenzeitung", der mit dem Satz "Wir trauern um Amerika" begann und mit dem Aufruf "Lassen Sie uns jetzt alle zusammenstehen!" endete.
Angesichts der Tragweite und der Emotionen, die ein jeder ange-sichts der erschütternden Bilder im Fernsehen noch in sich trug, wirkt dieses Anliegen, in persona Ersatz zu schaffen, als Selbstüberschätzung, wie blanker Hohn und wie ein schlecht gelungener, geschmackloser Comic, der die Tragödie bei weitem nicht zu erfassen vermag.
Aber kann ein Kunstwerk sich überhaupt mit dieser schrecklichen Tat auseinandersetzen? Hat die Kunst die Kraft, dieses Ereignis zu kommentieren, ästhetisch zu beantworten - und das innerhalb einer so kurzen Zeit zwischen Anschlag und Messepräsentation? Hat die Kunst überhaupt die Möglichkeiten, an diese Realität heranzukommen, sie einzuholen und ihr in der notwendigen Distanz zum Geschehen etwas entgegenzustellen, ohne dabei den Status Kunst zu verlieren? Sicherlich, denn immer schon gab es Historien-, Kriegs-, Gewalt- und Katastrophenbilder, die mit hoher Präzision und Qualität das dargestellte Ereignis überlieferten. Diese Aufgabe aber haben heute vorwiegend die Medien übernommen. Die Künstler hingegen müssen sich jedoch die Kritik gefallen lassen, "auf einen fahrenden Zug aufzuspringen". Für manche ist es dennoch eine innere Notwendigkeit, sich künstlerisch mit diesem und vergleichbaren Themen auseinanderzusetzen.
Adorno hat in seiner "Ästhetischen Theorie" gesagt: "Kunst ist die Antithese zur Gesellschaft". Sie müsse immer das Andere in sich tragen, um der Gesellschaft nicht gleich zu werden. Ein wahrer Satz, der den Interpreten hilft, Gutes vom Schlechten zu trennen. Und, wie Gerhard Finck - der im Jahr 2000 im Museum Folkwang, Essen, eine Ausstellung zum Thema "Katastrophen und Desaster" kuratierte - in einem Interview mit der Osnabrücker Zeitung vom 26.10.01 sagte: "Die ersten Reaktionen (auf Katastrophen, U.L.) müssen nicht die ästhetisch bedeutsamsten sein."
In der letzten Zeit haben sich viele Künstler mit sozialen Fragen befasst, sie haben, wie Christine Hill, eine "Volksboutique" eröffnet, oder wie Regina Möller eine Zeitschrift gegründet, die einer Modezeitung auf den ersten Blick ähnelt - oder sie haben andere Dienstleistungen angeboten. Doch seit dem 11. September haben wir es mit einem gesellschaftspolitischen Ereignis zu tun, das die Gefühle nahezu aller Menschen in dieser Welt tief getroffen und in diesem gemeinsamen Gefühl der Trauer und Wut geeint hat –auch wenn das Gemeinschaftsgefühl nur kurze Zeit anhielt.
Die Arbeit von Deutschbauer & Spring hat mich – bei aller Kritik – während des Rundgangs auf der Messe wieder an die Geschehnisse erinnert. Und ich entdeckte im folgenden immer wieder Kunstwerke, die meine Erinnerungen daran wach riefen. Einige davon hätte ich vermutlich anders betrachtet, wenn das Ereignis nicht geschehen wäre.
So die Videoarbeit von Magdalena Jetelova (in der Koje der Galerie Walter Storms), die verschiedene Hochhauseinstürze durch Sprengungen gefilmt, das Tape jedoch rückwärts laufen gelassen hat. In Sekundenschnelle sieht man, wie aus Schutt und Asche, aus einer dicken Staubwolke, plötzlich ein Hoch-haus entsteht. Zwischendurch stürzen Kampfjets ins Meer und tauchen wieder auf. Doch alles ist nur fake, denn der Film, der der Realität entspricht, spielt sich andersherum im Kopf ab. Immer wieder sah ich mir die kurz aufeinander folgenden Szenen an. Sie faszinierten mich, weil sie ein Geschehen reversibel zu machen scheinen - ein potentieller Wunsch ging damit zumindest für die Dauer des Anblicks dieses Videotapes in Erfüllung. Und dieser Wunsch bezog auch das WTC mit ein, obwohl es in diesem Video nicht zu sehen war. Das Bild, das uns vom WTC im Gedächtnis bleiben wird, ist das, was x-Male von den Nachrichtensendern ausgestrahlt und sogar als Bild zwischen zwei Beiträgen - gewissermaßen als Gedenkpause -eingeblendet wurde. Es ist der noch existierende Twin-Tower in dem Moment, als das Flugzeug hineinraste und – im Zeitraffer im TV gezeigt – die Häuser selbst zum Einsturz brachte.
Zugleich kam ein neuer Schauder auf. Ich war mit der Ästhetik des Grauens konfrontiert. Vielleicht waren alle diese Hochhäu-ser, deren Einstürze Jetelova 1994-95 in Kuba gedreht hat, hässlich, unnütz und standen neuen Planungen im Weg. Wie-viele Menschen müssen auch hier ihre Wohnungen und Büros verlassen haben? Sie sind vermutlich nicht gestorben, aber sie haben ihr Haus verloren. Jetelova zeigt uns andere architektonische, urbane und soziale Lücken auf.
Auch wenn das Video bereits lange vor dem Anschlag vom 11.9. erstellt wurde, ist seine Aussagekraft mit den Nachrich-tenbildern gekoppelt. Der viel zitierte Satz des Tages "Es wird nichts mehr so sein wie vorher” scheint sich auch in der Rezep-tionsästhetik zu bewahrheiten. Vor dem Hintergrund des Anschlags sehen wir diese Bilder anders, als zuvor – zumindest jetzt, kurz nach dem Geschehen. Möglicherweise wird sich mit einem gewissen Zeitabstand diese Koppelung von künstlerischem Bild und der Bildübertragung jenes politischen Ereignisses (live im TV) nicht mehr ergeben.
Die russische Künstlergruppe AES (Tatiana Arzamasova, Lev Evzovich, Evgeny Svyatsky) hat in der Galerie Sollertis, Tou-louse, eine großformatige Arbeit aus zusammengenähten Stoffen präsentiert, die sofort ins Auge fiel: Das Abbild der New Yorker Freiheitsstatue ist verhängt mit dem Taliban-Schleier, den Frauen in Afghanistan tragen. Das Gesicht der weiblichen Statue of Liberty ist verhüllt durch das engmaschige Sichtnetz, aber ihre Krone und ihre Fackel trägt sie noch. Dazu hält sie in der anderen Hand den Koran. Der Schleier wird zum Symbol für ein Leben in Unfreiheit, ein Leben in offener Gefangenschaft durch das Taliban-Regime, ein Regime, das sich gegen jegliche Freiheit der westlichen Welt, insbesondere der USA richtet und dabei die Menschen und deren Würde – insbesondere die der Frauen – zugrunde richtet. (1)
Ich habe angenommen, dass diese Arbeit aus aktuellem Anlaß entstanden ist, aber ein Blick auf das Schild versetzte mich ins Staunen und brachte mir erneut ins Bewusstsein, dass die Forderungen eines "Heiligen Krieges” von den islamistischen Fundamentalisten älter sind als jene eineinhalb Monate. Die Arbeit entstand 1996/97 innerhalb des Projektes "Islamic Project: The Witness of the Future", das sich mit dem Thema Islam beschäftigt. Neben der verhüllten Freiheitsstatue entstanden weitere digitale Fotomontagen, die Ansichten bedeutender Hauptstädte im Westen mit zahlreichen Moscheen zeigen. Die Ansichten wurden auch auf Postkarten gedruckt und tragen neben dem Namen der Stadt das Jahr 2006. Die Gruppe AES hat für diese Arbeiten harsche und unberechtigte Kritik von der Presse bekommen, weil sie mit diesen Bildern die Brutalität der russischen Truppen in Tschechien unterstütze oder auch die Thesen des Buches "Der Kampf der Kulturen" von Samuel Huntington illustriere, mit denen er eine westliche Sicht gegen den Islam vertritt.
Rückblickend und vor dem Hintergrund der Terroranschläge in New York schrieb die Gruppe AES 2001 in einem unveröffen-tlichten Statement: "When horrible terror broke out in America our artistic phantasm grotesque of 1996 seemed real and Mr. Huntington appeared to be right, we could feel as artists that became prophets. …The project is neither anti-Islamic nor anti-Western, but tries to function as a psychoanalytical Therapy in which phobias from both western and Eastern society are uncovered and work through. In `Is-lamic Project: AES – The Witness of the Future´ we tried to reveal the contradictial ethics and easthetics of our times. We believe that con-temporary art does not solve the problems, but it can raise the major questions.”
AES´ Fotoarbeit über die Freiheitsstatue könnte, weil sie so eindringlich, prägnant und scharfsinnig das Geschehen auf den Punkt bringt, zu einer Inkunabel in der Kunstgeschichte zum Thema 11.9. werden.
Kurz nach der Arbeit von AES sah ich auf der Messe eine Foto-serie des Künstlers Stefan Banz (ausgestellt in der Züricher Galerie Bob Gysin), die mich an den Kampf, den Krieg und die Gewalt erinnerten, die schon im zwischenmenschlichen Privat-bereich beginnen. Betitelt mit "Muhammad Alis” zeigt jedes Foto dieser Serie einen Menschen, der in Boxerpose steht und die Fäuste wie auch das kampfbereite Gesicht offensiv zum Betrachter hält. Die nachgeahmten Stellungen des berühmten Boxers von Laien gehen über das Sportive hinaus und thematisieren die zwischenmenschliche Gewalt(bereitschaft) im Alltag. Dass Muhammad Ali Muslim ist, ist hier nicht von Bedeutung.
Die imitierten Posen sagen vielmehr etwas über die dargestellte Person selbst aus, als über den Boxer Ali. Für Banz sind die Fotos "eine andere Form von Porträt".
Stephan Kaluzas grossformatiges Triptychon "Die notwendige Erschießung" – ausgestellt bei der Galerie Michael Schultze, Berlin, war eigentlich als Arbeit zu Goyas "Die Erschiessung der Aufständigen" geplant. Doch mit den Ereignissen vom 11.9. änderte Kaluza seine Gemälde und bezog Stellung zum Terroranschlag und zum Krieg gegen die Taliban und ihren Anführer. Auf der Mitteltafel ist die Freiheitsstatue gemalt, die blutverschmiert ist und den Arm nicht links, sondern rechts hoch hält. Links und rechts von ihr stehen in einer Reihe schwarz gekleidete Männer, die die Arme auf dem Rücken halten, und es scheint, als tragen sie weiße Turbane auf ihren Köpfen. Es ist der Künstler selbst, der sich hier in mehrfacher Kopie mit verbundenen Augen – nach Goyas Gemälde – darstellte. Genau erkennen kann man es nicht, denn die Bilder sind von einem dicken milchigen Plexiglas ummantelt, das wie ein "Schleier über Vergangenes" liegt. Kaluzas kreuzförmiges Triptychon über den Terrorkrieg und die Vergeltungsschläge der USA in Afghanistan macht in der Offenheit und Direktheit betroffen. Es schockiert und wirkt – vor allem aufgrund des Themas und des blutverschmierten Freiheitssymbols – beunruhigend. Zu kritisieren ist hier vor allem die Vereinheitlichung der männlichen Personen, die, weil sie alle gleich aussehen und Turbane tragen, sofort als Talibans identifiziert werden, und dabei ist doch – auch jetzt im Krieg – deutlich geworden, dass nicht jeder Turban-Träger gleich ein Terrorist ist. Nichtsdestotrotz hat die KölnMesse diese Arbeit angekauft und präsentiert sie nun – Zeichen setzend - in einem ihrer Büroflure.
Auf eine subtilere, wenn auch monumentale Weise hat der in New York lebende Koreaner Ik-Joong Kang das Ereignis verar-beitet. Die Skulptur "Cologne Pagoda" (bei Prüss & Ochs Gale-rie / Asian Fine Arts Berlin), die er speziell für die Messe seit Juli entwickelte, änderte sich mit dem 11. September. Ik-Joong Kang, der sich zur Zeit des Terroranschlags im UN-Gebäude in Manhattan aufhielt, wurde evakuiert. Der Koffer, den er bei sich trug, wurde Teil der Skulptur. Eine männliche Figur – nach dem Körper des Künstlers geformt und im Stil der Pop-Art bemalt – sitzt auf den Stufen eines Turms (der an die Hochhäuser Manhattans erinnert) und schaut durch ein verspiegeltes Fernglas. Er erscheint wie ein schaulustiger Tourist, der zuschaut, wie es brennt. Im Spiegel erkennen wir uns selbst, wie wir durch die (Fernseh-)röhre die Ereignisse beobachten. Entfernt von der Figur liegen unbeachtet und einsam zwei (Friedens-)Tauben auf dem Rücken, die Beine in die Luft gestreckt. Der Text auf den Wänden des Turms, der im Uhrzeigersinn zu lesen ist, ist ein Fragment aus dem Geschichtsbuch "Hello from America" über den bis 1953 andauernden koreanischen Krieg. Ik-Joong Kangs Skulptur steckt voller Symbole und Anspielungen. Der Künstler verarbeitet das Gesehene und das Geschehen des Terrorkriegs ebenso wie die Geschichte seines Herkunftslandes und schafft überzeugende Verbindungen als Statement zur aktuellen Geschichte.
Christoph Draeger zeigte bei Urs Meile ein großformatiges Foto als Puzzle, das ein brennendes Flugzeug vor blauem Himmel darstellt. Noch paralysiert von den Geschehnissen in New York und Washington hat diese Arbeit schockiert und die im Fernsehen übertragenen Live-Bilder der brennenden Flugzeugbombe in Erinnerung gerufen. Draeger, der ausschließlich Katastrophenbilder reproduziert, recycelt, produziert und inszeniert, wählte hier ein Pressefoto vom Absturz der Maschine der Pacific South Airways in San Diego im Jahr 1978. In einem Katalogbeitrag von 2000 hat Sabine Russ es auf den Punkt gebracht: "Während wir versuchen, die uns durch die Medien unablässig nahegebrachten fernen Katastrophen so schnell wie möglich zu verdrängen, macht Draeger sie zum Material für seine Kunst. ... Diesem gesunden Spieltrieb (des Puzzelns, U.L.) zu folgen, der gar nicht so recht zum Thema Unglück und Tod passen will, ist ein Weg, Ängste zu konfrontieren und zu sublimieren. Die thematisierten Gefahren zu bannen, steht nicht in der Macht der Kunst. Doch es zwingt uns niemand, die allgegenwärtigen Bilder von gewalt und Zerstörung stumpfsinnig zu konsumieren oder gar als ermutigung zur Destruktivität aufzunehmen. Draegers kreativer, vielschichtiger und konstruktiver Umgang mit den zeugnissen von Zersetzung könnte als Anregung für ein aktives und bewusstes Verhältnis zu Katastrophen- und Gewaltdarstellungen samt ihrer cleveren Vermarktung dienen." (2)
In der "Börsenarbeit" mit dem Titel "2001" von Rudolf Bonvie (Galerie KunstRaum, Trier) sind die Fotos der Rauchwolke über der Manhattan-Skyline und der Verwüstung in der "Ground Zero-Zone" marginal an den unteren Rand gedrängt. Die Fotoarbeit besteht aus insgesamt 46 "Bildern", vorwiegend von Markenlabels, die der Künstler innerhalb von sieben Monaten von der ersten Internetseite von handelsblatt.com adaptiert hat. "So wurden Bilder des Attentats und des Kriegsanfangs zwangsläufig zu einem Teil der Arbeit", schildert Bonvie (3). Das Bild "com" mit einem roten und einem grünen Pfeil am rechten unteren Bildrand stellt das Auf und Ab der dot-com-Firmen dar. Die Fotos, die nach dem Anschlag entstanden, sind hier wenige unter vielen. Der Anschlag auf und der folgende Brand des WTC hat zu Börseneinbrüchen der brands (engl. Wort für Marke) geführt. Aber Bonvies Bild vermittelt, dass das Tagesgeschäft weiter geht. Wir gehen wieder zur Tagesordnung über. Die Devise hier lautet nicht: "Es ist nichts mehr, wie es vorher war" sondern "Alles geht weiter", "The show must go on".
Neben den ausgestellten Arbeiten war auf der Messe auch die Zeitschrift Kunstbulletin vertreten, auf dessen Cover der No-vemberausgabe ein schwarz-graues Aquarell der russischen Künstlerin Victoria Samoilova abgebildet war. Es zeigt den dikken dunklen Rauch, der die Hochhäuser umgibt und in eine düstere Sphäre taucht. Im Vordergrund läuft ein einsamer Mann mit Hut durch die Zone entlang. Das Bild stammt aus einer Serie von Aquarellen der Künstlerin, die bis Ende Dezember 2001 in Zug im Rahmen eines Stipendiums der Stiftung Landis und Gyr und auf Einladung des Kunsthauses Zug weilte.
Als eine von 29 KünstlerInnen (darunter Rebecca Horn, Jochen gerz, Michelangelo Pistoletto) stellte sie ein weiteres Aquarell aus der Serie für die Zeitschrift Lettre International (Heft 55) zur Verfügung, die im Dezember 2001 erschien. Die Zeitschrift hat die Beiträge unter dem Titel "Kunst und Schock. Der 11. September und das Geheimnis des Anderen" zusammengefasst. Jeweils ganzseitig sind sie über das ganze Heft verteilt.
Das New York Times Magazine vom 23.9. zeigt auf dem Cover an der Stelle der Twin-Towers zwei in den Himmel ragende Lichtskulpturen. Es handelt sich hier um eine digitale Bildmanipulation mit dem Titel "Phantom Towers" von Paul Myoda und Julian LaVerdiere. Und im Dezember hat bereits die New Yorker Galerie Deitch Projects in ihrem Projektraum in NY-Williamsburg eine Ausstellung zum 11.9. mit Werken junger Künstler gezeigt.
Der 11. September ist weltweit zum Thema der Kunst geworden, und es ist anzunehmen, das es zunächst bleibt. Welche Kunstwerke wirklich Bestand haben und uns das Thema von einer anderen Sicht als die Medien zeigen, wird sich erst mit einem Zeitabstand zu dem Ereignis zeigen. Eine Verkaufsstrategie ist es allemal.

Ulrike Lehmann

Anmerkungen:
1) Ich habe mich hier auch an die Videoarbeiten "Rapture" (1999) und "Fervor" (2000) von Shirin Neshat erinnert, die künstlerisch auf eindrucksvolle Weise die strikte Trennung von Frauen und Männern im öffentlichen Leben des Islam zum Ausdruck bringen - in Rapture durch die zwei gegenüberstehenden Videoprojektionen einer weiblichen und einer männlichen Bildfläche, die beide miteinander korrespondieren. In "Fervor" ist die Trennung der Geschlechter durch einen langen schwarzen Wandvorhang innerhalb eines Innenhofs vollzogen worden.

2) Sabine Russ: Spiel mit dem Ernst, in: Ausst.kat. Katastrophen und Desaster, Museum Folkwang, Essen 2000, S. 37 u. 41.
3) Rudolf Bonvie in der Email-Korrespondenz mit der Autorin.

 

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