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Eröffnungsrede zu Götz Diergarten

Galerie Bernhard Knaus, Mannheim, 11.10.03

Von Ulrike LehmannGuten Abend, meine Damen und Herren,

Zunächst einige Daten und Fakten
Seit einigen Jahren beschäftigt sich der 1972 in Mannheim geborene Götz Diergar-ten mit der künstlerisch-fotografischen Darstellung von Architektur. Seine Herange-hensweise ist dabei – wie sie auf den ersten Blick erscheint – nüchtern und dokumentarisch. Dabei nutzt er das Prinzip der Serie, die eine Art systematische Annäherung und Bestandsaufnahme des jeweiligen Ortes inauguriert. In nahezu allen Serien ist jeweils ein Gesamtbild der Situation enthalten (vgl. das Panoramabild der Einladungskarte), ferner Aufnahmen einzelner Häuser und schließlich Detailaufnahmen. Stets wählt er dafür den frontalen Blick, wodurch die dreidimensionale Architektur in die Fläche gebannt wird.
Zu Beginn seines Studiums, das er von 1993-98 bei Bernd Becher an der Kunstakademie Düsseldorf absolvierte, fotografierte er zunächst in Schwarzweiß, seit 1994 vorwiegend in Farbe.
Bekannt geworden ist Götz Diergarten durch die Serie Ravenoville, die im Jahr 2000 an der normannischen Küste Frankreichs entstand. Von den insgesamt 67 Bildern der Serie sind in dieser Ausstellung exemplarisch ein Gesamtbild der Siedlung als Diptychon sowie die Aufnahme eines Einzelhauses zu sehen. Nach Ravenoville realisierte Diergarten 2001 die Serie Quin´eville und im letzten Jahr Gouville, eine Serie, die 34 Aufnahmen von Einzelhäusern und ein Panoramabild (siehe Einladungskarte) beinhaltet. Alle drei Orte in Frankreich sind hier wie auch in Frankreich selbst eher unbekannte Feriensiedlungen am Meer, Strandhäuschen, die Diergarten außerhalb der Saison aufgenommen hat.
Auch wenn Diergarten seriell arbeitet und die Bilder dieser Serie gerade in Ausstellungen oder den bereits erschienenen Publikationen den Gesamtkontext der jeweiligen Feriensiedlung schildern, kann jedes Einzel-Bild für sich bestehen, angesehen und – nicht zuletzt - auch erworben werden.
Schauen wir uns nun die Bilder etwas genauer an.
Auffallend bei den Serien Ravenoville und Gouville ist, dass alle Fenster und Türen der Häuser verschlossen sind, und keine Bewohner auf den Bildern zu sehen sind. Diergartens Fotografien sind menschenleer. Hauptprotagonist der Fotos ist die Architektur. "Die Ferienhäuschen haben Ferien", so schrieb Didier Mouchel in einem Katalogtext. Die Häuschen von Ravenoville, die zwischen den beiden Weltkriegen in den 20er/30er Jahren gebaut wurden, überzeugen durch ihre Bauweise und das individuell verwendete Material mit ihrem nostalgischen Charme, während die Häuschen von Gouville sich nur durch die Farbe der Dächer und kleine Details unterscheiden. Dies kam übrigens durch eine Bauauflage zustande, dass die Hauskörper nicht farbig gestaltet werden durften, daher haben die Bewohner die Dächer farbig akzentuiert, um ein Unterscheidungsmerkmal zu kreieren.
Ihre einfache Bauweise mit einem weißen kubusartigen Baukörper wirkt im Vergleich zu Ravenoville eher nüchtern und einfach. Sie erinnern an schlichte Badekabinen oder an eine Containerarchitektur aus Wellblech, die eine individuelle Note vermissen lassen und eher durch eine moderne und serielle Fertigbauweise entstanden zu sein scheinen. Während die Häuser in Ravenoville noch ein architektonisches Gesicht enthalten, verschwindet das Individuelle in Gouville in der gleichförmigen Masse.
Götz Diergarten kommt es bei seinen Fotografien jedoch gar nicht darauf an, wie die Häuser gebaut sind, seine Bilder sind auch fern von jeglicher Architekturkritik. Denn seine Intention ist eine Künstlerische. In einem Text schreibt er: "Zugegeben: ich habe ein Interesse an der Wirklichkeit, an den Gegebenheiten von Welt. Allerdings interessieren mich die von anderen erzeugten Bilder, die ich überwiegend in der meist unbewussten Gestaltung von banalen Fassaden finde."
Von großer Bedeutung für seine künstlerische Intention ist dabei, wie er die Häuser fotografiert hat und wie er damit den Blick des Betrachters auf das fotografierte Objekt lenkt. In allen Einzelbildern wird das jeweilige Haus nahezu flächenfüllend monumental ins Bild gesetzt. Es lässt damit keine Distanz aufkommen und es wirkt damit sehr präsent. In einem neutralen Licht ohne einwirkende Sonnenstrahlen konzentriert sich der fotografische Blick auf die Fläche der Häuserfronten, auf die Aufteilung und Komposition der Fläche, wie der Architekt sie am Haus gestaltet hat und wie der Künstler sie vorfindet. Kein Detail wie Mülltonnen, Kinderspielzeug oder andere Gegenstände lenken von der in die Fläche gebannten Hausfassade ab. Kein Winkel ist vorhanden, der eine perspektivische Flucht und Dreidimensionalität des Baukörpers verrät. Die zugezogenen Gardinen, heruntergelassenen Rolläden und geschlossenen Fensterläden und Türen vermeiden jeglichen Einblick ins Hausinnere und damit werden auch soziale Dimensionen der Hausbesitzer vermieden.
So wird die sachliche Analyse der Hausfront im fotografischen Bild zu einer abstrak-ten zweidimensionalen Fläche. Das Gebäude ist zu einem Gebilde im Bild geworden. Durch die Abstraktion wird das Haus als Bildgegenstand vom Narrativen, Funktionalen und Sozialen befreit und somit absolut gesetzt. Diese Befreiung hilft dem Betrachter, das dargestellte Objekt frei und assoziativ anzusehen, wodurch zugleich eine Sicht auf kompositorische Elemente ermöglicht wird. Fenster, Türen und Dächer werden zu farbigen Flächen - und mehr noch: die Fotografie wird vom Abbildhaften befreit, das fotografische Bild wird zur Malerei.
Götz Diergarten gelingt dieser Schritt durch die absolute Reduktion aufs Wesentliche, auf die Fokussierung der Fassade als Fläche, durch die neutrale Lichtgebung, die Eliminierung jeglicher menschlichen Spur und nicht zuletzt durch die Wahl des fotografischen Standortes bzw. Blickwinkels.
Es kommt nun auf den Betrachter an, inwieweit er sich vom abgebildeten Gegenstand distanzieren und sich auf eine Sicht auf kompositorische Elemente wie Farbflächen und Linien einlassen kann und will. Götz Diergarten sagt selbst in seinem 2001 erschienenen Text: "Ich nutze die Kamera als Aufzeichnungsmittel der pastellenen Flächen … (und) … nehme mir das, was selbst die Schöpfer dieser Fassadenbilder nicht mehr in dem zum – fotografischen – Bild Erhobenen für wahr empfinden. Der Grad der empfundenen Abstraktion in den Bildern verhält sich üblicherweise proportional zur Bereitschaft der Sensibilisierung der eigenen Wahrnehmung."
Was heißt das nun konkret?
Nehmen wir einige Bildbeispiele aus der Ausstellung und schauen sie uns auf ihren Grad der Abstraktion hin an.
Das langgestreckte panoramaartige Bild der Feriensiedlung Gouville, das auch auf der Einladungskarte abgedruckt ist, zeigt die zahlreichen gleich großen, aber in ihrer Dachfarbe zu unterscheidenden Häuser auf beigebraunem Sandgrund vor dunkelgrauem Gewitterhimmel. Kein Baum, kein Strauch, kein Hinterland ist zu erkennen. Der Himmel stößt direkt auf die Erde und erscheint in seinem Grau wie eine neutrale Farbfolie, die Porträtfotografen als Hintergrund verwenden. Durch das Grau erscheinen die Farben der Dächer kräftiger.
Die Häuser selbst sind auf den flachen Dünen aufgereiht. Selten stehen die Häuser im Nebeneinander, sondern mehr im Nacheinander, was den Eindruck einer langen bunten Kette hervorruft.
Die Abstände zwischen den Häusern geschehen im Mittelteil des Bildes gleichförmig, nach links und rechts mit größeren Unterbrechungen, und nach rechts hin verdichten sie sich. Die Unebenheit des Bodens lassen die Häuser mal höher, mal niedriger erscheinen. Die unterschiedliche Höhe und Abstände, aber auch die unterschiedliche Farbigkeit der Dächer lassen die Häuser vor unseren Augen als tanzende, rhythmisch bewegte kleine und annähernd quadratische Punkte erscheinen. Die Abstände der Häuser zueinander und die Höhenunterschiede geben den Rhythmus vor, die Farbigkeit der Dächer sorgt für die musikalischen Töne.
Die Linearität der Bildkomposition überführt die objektive Wirklichkeit, die dargestellten Gegenstände, in eine abstrakte Komposition, die aufgrund ihrer Linearität auch die Dimension von Zeit anspricht. Die pastellfarbigen Punkte, eingefasst zwischen einem neutral Grauem und einem bewegtem braunbeigen Farbstreifen werden in Leserichtung von links nach rechts im Nacheinander erlebt wie die Noten auf Notenblättern, aber unser Auge kann sie im Ganzen erfassen, so dass die farbigen Punkte sich zu einem Orchester zusammenfügen. Sie erscheinen mir geradezu wie aus einem horizontalen Streifen aus den Boogie-Woogie-Bildern von Mondrian entsprungen zu sein.
Wie Sie sehen, meine Damen und Herren, spielen in diesem Bild Linearität, Farbflächen und Rhythmisierung der Bildzonen als kompositorische Mittel eine größere Rolle für die Erscheinung des Bildes als die dargestellten Gegenstände selbst. Anders als in den Einzelbildern sind hier die Häuser aus großer Distanz aufgenommen, wodurch eine abstrakte lineare Komposition mittels der Wirkung der Panoramafotografie erzielt wurde. Um diese Wirkung zu erzielen, hat Diergarten das Negativ im Abzug oben und unten extrem beschnitten.
Ähnliche Bildanalysen lassen sich auch bei den Fotos der Einzelhäuser machen. Für die abstrakte Bildkomposition werden hier die Größe und Ausrichtung der Fenster- und Türflächen sowie ihre Beziehung untereinander und zu den linearen Kanten der Fassade als Horizontale und Vertikale relevant. In der Serie Gouville werden die monochromen Flächen von Hauskörper und Dach sowie der Rasenfläche in Beziehung zu setzen sein. Darüberhinaus werden in beiden Serien Ravenoville und Gouville kleine Details wichtig zur Rhythmisierung der Fläche. So erscheint eine kleine runde Klingel wie ein Kreis im Gesamtgefüge des Bildes, der den Blick weiterlenkt auf ein weiteres Detail.
Die formalen Elemente der Architektur werden zu konstruktiven Bildzeichen im Foto-bild, die jedoch wiederum auf die Konstruktion der Architektur zurückverweisen, also auf Architektur als gebaute, angewandte Mathematik, auf Geometrie und Stereometrie.
Mehr noch als die Geistesverwandtschaft zu Mondrian sehe ich Diergartens Ver-wandtschaft zu den russischen Konstruktivisten wie Lissitzky, Tatlin und Rodschenko, die ihre abstrakten Bildkonstruktionen verräumlicht und in gebaute Architektur umgesetzt haben. Durch die Synthese von Architektur und abstrakter Bildkomposition kann diese kunsthistorische Brücke geschlagen werden, ohne jedoch das Revolutionäre der russischen Künstler hier anklingen zu lassen.
Götz Diergarten nutzt zur Abstrahierung des Dargestellten noch einen weiteren Schachzug: er monumentalisiert die Miniaturhäuser und inszeniert sie formatfüllend im Zentrum des Bildes. So gehen Horizontale und Vertikale der Fassaden eine kompositorische Verbindung ein zu den Horizontalen und Vertikalen der Bildränder. Dergestalt wird das Bildobjekt kompositorisch verankert mit der Bildgrenze. Zugleich eröffnet Diergarten ein Spiel mit der Größe, denn das monumental erscheinende Haus wirkt dennoch wie ein Spielzeughaus aus der Puppenhaus- und Modelleisenbahn-welt, wie ein take-away.
Die relative Einfachheit und Schlichtheit der Hausfassaden, die sich mehr noch als komplexe Gebilde zur Abstrahierung eignen, erinnern zudem an die uns allen bekannten Kinderzeichnungen von Häusern, die nach dem Prinzip des Mondgesichts komponiert werden (Punkt, Punkt, Komma, Strich…). Hier in der Ravenoville-Serie sind zwei Fenster oben und eine Tür unten in der Mitte wie ein einfach gestaltetes Gesicht zu sehen.
Die Verschlossenheit der Fenster und Türen ist ein Zeichen von Abwesenheit, die zugleich eine Distanz zum Betrachter bewirkt. Die Häuser wirken damit nicht einladend, sondern kalt und abweisend. Während die Ravenoville-Häuser noch Fenster und Türen haben und in ihrer Bauweise und Aneinanderreihung eher pittoresk und malerisch erscheinen, wirken die weißen Gouville-Häuser, die (wie einige Fotobilder zeigen) ganz ohne Fenster und Türen auskommen, wie minimalistische little boxes.
In beiden Serien steht die Verschlossenheit des Hauses in Antithese zu dem, was wir mit Haus assoziieren: Wärme, Behaglichkeit, Schutz, Heim, Zuhause, Gemütlichkeit.
So wird das auf formale Elemente wie Flächen, Farben und Linien reduzierte Haus zu einem anonymen, den Betrachter abweisenden Unort.
Man könnte hier von einer Utopie sprechen im Sinne der griechischen Herkunft des Wortes ou-topos, das übersetzt so viel heißt wie Nicht-Ort, Nirgendwo. Götz Diergarten formuliert mit seinen Fotobildern eine abstrakte Utopie, die eine scheinbar nur behauptete Existenz ist im Gegensatz zur konkreten Utopie, in der die Wechselbeziehung von Wunsch und Wirklichkeit dominiert. Noch deutlicher formuliert, könnte man von einer negativen Utopie sprechen, weil die geschlossenen und den Betrachter nicht einladenden Häuser, die zudem keine Identifizierungsmerkmale der Bewohner besitzen, per se nicht positiv besetzt sind. Seine Arbeiten oszillieren in der Spannung zwischen Ort und Ortlosigkeit, zwischen Topos und U-Topos. Und wir als Betrachter schaffen dann in der Begegnung mit diesen Bildern den Ort des Bildes auf anderer Ebene immer wieder neu, als mehrschichtige Palimpseste, in der sich innere, erinnerte, fremde, gegenständliche und abstrakte Bilder im Hin und Her vermischen.
Und leise schwingt dabei ein melancholisch-humoresker Unterton mit.
Götz Diergarten schafft Bilder, die nicht nur ein Äußerliches abbilden, sondern auch innerlich bewegen.

Ulrike Lehmann

 

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