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Mariko Mori
Geb. 1967 in Tokio, Japan, lebt in New York, USA und Tokio

 

Eija-Liisa Ahtila, Nan Goldin, Jenny Holzer, Rebecca Horn, Frida Kahlo, Marie-Jo Lafontaine, Tracey Moffatt, Mariko Mori, Shirin Neshat, Pipilotti Rist, Kiki Smith, Rosemarie Trockel,

in: Women Artists, Reihe Icons, Taschen-Verlag, Köln 2003.

Synthetische Bildvisionen zwischen Gestern und Morgen

Die multimedial arbeitende Mariko Mori lebt wie viele KünstlerInnen heute in zwei Welten. Ihre Heimat ist Tokio, und sie lebt zusätzlich in New York. Ihre Performances und das von ihr ent-worfene Modedesign, ihre Videos und Fotografien spiegeln den Kontrast zwischen einer alten und neuen Welt, zwischen Osten und Westen wider und synthetisieren beide Welten in hyper-realisischen Visionen. Dabei spielt nicht nur der japanische Buddhismus und Shintoismus eine grosse Rolle, sondern auch moderne Technik, digitale Bildmanipulation, Science Fiction, Welt-raumvisionen, Techno und Neo-Pop, Comic und Werbung.
In ihren früheren Fotoarbeiten zeigt sie sich selbst in silbrig glitzerndem High-Tech-Anzug, als weiblicher Cyborg umgeben von Menschen des Diesseits im japanischen Alltag und dennoch isoliert: in einem U-Bahn-Wagen, der durch die spezielle Aufnahme wie ein rundes UFO er-scheint ("Subway", 1994); vor einem Bürogebäude, wo sie den vorbeieilenden Geschäftsleuten Tee anbietet ("Tea Ceremony III", 1995) oder in einer Mischung aus Barbie-Puppe und Fritz Langs Maschinenfrau aus dem Film Metropolis in einer Pachinko-Spielhalle ("Play with me", 1994).
Die 3D-Fotoinstallation "Birth of a Star", 1995 bedeutet einen Wendepunkt. Mori stellt sich allein dar vor weissem Hintergrund. Um sie herum schweben bunte Bälle wie Sterne und sie selbst inszeniert sich mit dicken Kopfhörern, Minirock und Plastikbeinen als computergeneriertes Pop-Idol in der Mischung aus den 70er und 90er Jahren. Zwei gelbe Plastikschlaufen an den Armen erinnern an die Engelsgestalt als Mittler zwischen Himmel und Erde. Seitdem entstehen ihre überdimensional grossen Farbfotografien und Videos unter Mithilfe eines etwa 8 - 19köpfiges Teams und zahlreichen Sponsoren.
Moris aufwendige Produktionen brauchen zur perfekten Bildinszenierung Fachleute für Kostüm- und Schmuckentwürfe sowie für deren Herstellung, für Styling, Frisuren und Make-up, Technik, Licht und Kamera, Komposition und Ton, Computeranimation und -design. Mariko Mori ist Re-gisseurin, Drehbuchautorin, Sängerin und Hauptdarstellerin in ihren Fotos, Videos und Perfor-mances. So perfekt wie die Inszenierung, so komplex und mehrschichtig ist die jeweilige bildne-rische Aussage bzw. filmische Handlung. Die Künstlerin realisiert völlig neue Bildwelten, die zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Traum und Fiktion, Religion und Technik, Natur und Technik, Ernst und Humor liegen. Sie mischt und vereint Gegensätze, deren Grenzen in den Bildern fliessend werden. Sie manipuliert, synthetisiert und harmonisiert mit der Hoffnung auf eine bessere Welt im Jenseits, ohne dabei kritische Töne anzuschlagen. Denn ihre Mission ist die Veranschaulichung und Vorstellung der Erleuchtung im Nirwana. Durch die buddhistische Lehre glauben ihre Anhänger an eine Wiedergeburt und einen Zustand des seligen Friedens. Doch wie könnte sie aussehen? Können wir uns selbst, die Künstlerin und andere liegend als blaue Fischfrau, schwebend im Raum, sitzend auf einer Lotusblüte wie eine Göttin, umgeben von außerirdischen Wesen und bekleidet mit futuristischen Kleidern vorstellen? Mariko Moris Bildvisionen geben dazu Hilfestellungen. Sie lassen das mögliche Morgen schon heute Wirklichkeit werden.
Bekleidet mit einem glänzenden, weiss-rosafarbenen Anzug und spitzen, aufgeblasenen Engelsflügeln aus Plastik steht sie auf einem Flughafen in Japan und hält eine grosse Glaskugel in der Hand. Ihre Augen sind durch Lichtstrahlen gezeichnet, während sie in die Kugel und damit in die Zukunft schaut. Diese Videoarbeit mit dem Titel "Miko no inori" von 1996 scheint pro-grammatisch zu sein für Moris Gesamtkunstwerk, in der sie ihre Kunst und Weltanschauung, ihre religiösen und magisch-spirituellen Visionen vereinen will. Mit der zwei Jahre später entwickelten Fotografie "Kumano" mag Mori ihr zukünftiges Selbstbildnis gefunden zu haben. Im linken Teil des Bildes kniet sie vor einer roten Brücke, wie sie in japanischen Tempelanlagen üblich ist. Sie ist bekleidet mit einem hohen Kopfschmuck aus Perlen und kostbarer Kleidung und verkörpert damit das traditionelle Japan. Im Hintergrund taucht ein Wasserfall zwischen Bäumen auf. Im rechten Bildteil steht sie vor einem futuristisch anmutenden mehreckigen Tempel, dem "Dream Temple", dessen Form an alte japanische Bautradition erinnert. Ihre Figur selbst ist fast durchsichtig und insofern eine virtuelle, geisterhafte Erscheinung der Zukunft. Wie im Nebelschleier oder gleissendem Licht stehend scheint sie nicht mehr oder noch nicht greifbar zu sein. Beide Szenen werden durch die gemeinsame Waldkulisse und die oben stehenden alten Schriftzeichen verbunden, die auf die Fotooberfläche gemalt sind.
Nicht nur hier, auch in vorangegangenen Fotografien taucht sie selbst mehrfach auf, zuerst in "Empty Dream" von 1995, eine Badeszene mit gemalter Kulisse, künstlichem Strand und Wasser. Unter die Touristen hat sie sich als dreifache blaue Nixe gemischt. Mit diesem Foto, das im grössten Vergnügungspark der Welt, dem "Ocean Dome" in Japan aufgenommen wurde, steigert sie das Fiktionale der Umgebung mit ihrer multiplen Erscheinung als Fabelwesen und integriert sich so in das Bild, das es als real fotografierte Szene wirkt. Durch die monumentale Grösse der Fotografie (3 x 7,5 m) befindet sich der Betrachter – als einzige wirkliche Person – inmitten des Geschehens.
Auch in den vier Fotoarbeiten der Serie "Esoteric Cosmos" von 1996-98, die sich auf die vier Himmelsrichtungen und ihnen zugeordnete Elemente Feuer, Wasser, Erde, Luft bezieht, clont sich Mori mehrfach ins Bildgeschehen, so in "Burning Desire" als vierfache Göttin im Feuer vor Steinbergen und im Zentrum als vierarmige Bodhisattwa, schwebend im Lotussitz, umgeben von einem Regenbogenkreis.
In ihren Arbeiten sind Bezüge zu Andy Warhol, Cindy Sherman oder Jeff Koons offensichtlich. Doch aufgrund ihrer perfekten Bildmanipulationen und -inszenierungen, die an Gentechnologie erinnern und zugleich das Reale mit traumartigen, futuristischen Utopien verbinden, scheint der von Donna J. Haraway geprägte Begriff "Cyborg-Surrealismus" für Mariko Moris Werke zuzutreffen.

Ulrike Lehmann

 

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