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Shirin Neshat
geb. 1957 in Qazvin, Iran, lebt in New York, USA
Eija-Liisa Ahtila, Nan Goldin, Jenny Holzer, Rebecca Horn, Frida
Kahlo, Marie-Jo Lafontaine, Tracey Moffatt, Mariko Mori, Shirin
Neshat, Pipilotti Rist, Kiki Smith, Rosemarie Trockel,
in: Women Artists, Reihe Icons, Taschen-Verlag, Köln 2003.
Zwischen zwei Welten
Angesichts der immer globaler werdenden Welt, des Nomadentums
und der zunehmenden Aufgeschlossenheit gegenüber nicht-westlichen
Kulturen ist in den letzten Jahren ein öffentliches Interesse
an Künstlern gewachsen, die von unterschiedlicher Herkunft
sind und die multi-kulturellen Einflüsse in ihren Werken
thematisieren.
Shirin Neshat wuchs im Iran auf und ging 1974 nach Kalifornien,
um dort zu studieren. Erst 1990 besuchte sie wieder ihr Heimatland
und fand dort eine völlig veränderte Gesellschaft (von
Persien zur islamischen Republik) vor. Aufgrund diesem, von ihr
selbst erlebten und beschriebenen "Schock" begann sie,
die Rolle der muslimischen Frau im Iran und Islam und das Phänomen
der Verschleierung durch den schwarzen Tschador zu thematisieren.
1993 entstanden erste Arbeiten der Fotoserie "Women of Allah",
das sind Schwarzweiss-Fotografien von unverhüllten Körperteilen
wie ihr Gesicht, die Füsse oder Hände, zwischen die
ein Gewehr oder eine Blume eingeklemmt ist. Die Bildpartien jener
freiliegenden Körperteile unter dem Tschador hat sie mit
persischer Schrift überschrieben, denn ohne den Text empfand
sie die Bilder "nackt" . Es sind Texte von iranischen
Dichterinnen mit Metaphern über Fleischeslust, Sinnlichkeit,
Scham und Sexualität, die Neshat wiederum zu Bildern anregte.
Während die Texte für den westlichen Betrachter nicht
lesbar und daher ornamentale Kalligraphie oder geheimnisvolles
Dekor sind, werden Neshats Bilder dort, wo man ihre Texte lesen
könnte, also im Iran, nicht gezeigt. In zahlreichen Ausstellungen
und weltweiten Biennalen hat Neshat mit ihren rätselhaften,
voyeuristischen, symbolreichen, kraftvollen und exotischen Fotos
das Publikum fasziniert und schnell den Markt erobert.
1997 suchte sie nach neuen Wegen, um mehr erzählerische Komponenten
in ihre Arbeit einzu-bringen und begann, mit Film zu experimentieren.
Im gleichen Jahr entstand die vierteilige Videoarbeit "The
Shadow Under The Web". In den verschiedenen Filmprojektionen,
die an den vier Wänden innerhalb eines Raumes gezeigt werden,
läuft pausenlos eine Frau (Neshat selbst) im Tschador entlang
einer historischen Stadtmauer, durch eine Moschee, einen Bazar
und leere, enge Gassen. Stets hört man nur ihren schweren
Atem und das Keuchen. Aufgrund der schwierigen Situation hat Neshat
den Drehort von Iran nach Istanbul verlegt und gemeinsam mit iranischen
Filmemachern realisiert. Wichtig war ihr ein islamischer Schauplatz,
wo die öffentlichen Räume männliche und die privaten
Räume weibliche Räume sind. Der Tschador wird hier zum
Schutz für eine Frau, die gehetzt ist und auf der Flucht
zu sein scheint, auf der Flucht vor ihrer eingeengten Lebenssituation
in der islamischen Gesellschaft oder auf der Suche nach sich selbst.
Doch ist das Laufen untypisch und unangebracht an den dargestellten
Orten der Ruhe und des Handelns und vielmehr Ausdruck unserer
westlichen Zivilisation, das hier zum Sinnbild einer gestressten
modernen Gesellschaft wird. Nicht zuletzt ist der Betrachter inmitten
der Projektionsflächen selbst aufgefordert zu laufen, um
alle vier Filme gleichzeitig verfolgen zu können, was letztlich
scheitern muss. Neshats Film, der autobiografische Züge trägt
und das "Unterwegssein" zwischen zwei Welten thematisiert,
enthält – wie auch die folgenden Videos - bewusste
Unstimmigkeiten, die die unterschiedlichen gesellschaftlichen
Strukturen, Verhaltens- und Denkmuster, Tabus und Widersprüche
der westlichen und vor allem östlichen Gesellschaft veranschaulichen.
1998 entstand Neshats zweiter Film "Turbulent", der
1999 auf der Biennale Venedig preisgekrönt wurde und sich
als Publikumsmagnet erwies. In zwei sich gegenüber stehenden
Projektionen singen ein Mann und eine Frau (beide aus dem Iran)
scheinbar gegeneinander an. Mal verstummt der Mann, wenn die Frau
singt und umgekehrt. Die Frau singt ohne Worte, isoliert, in einem
leeren Saal. Der Sänger, direkt zur Kamera gerichtet, steht
mit dem Rücken zum männlichen Publikum. Es ist das emotional
aufgeladene Kräftemessen zwischen den Geschlechtern, das
auch auf diesem hohen Niveau im patriarchisch ausgerichteten Islam
real nicht stattfindet, weil Frauen von musikalischen Darbietungen
ausgeschlossen sind. Doch in diesem Schwarzweiss-Film siegt am
Ende die sagenhafte Stimme der Frau, während der Mann verstummt.
Auch in der zweiteiligen, sehr pathetischen und symbolreichen
Videoarbeit "Rapture", 1999, der einerseits eine Gruppe
von Männern in einer Festung und andererseits eine Gruppe
von Frauen in einer wüstenartigen Landschaft und am Meer
zeigt, setzt Neshat das Mittel der Doppelpro-jektion ein, um fiktiv
Kommunikation, Aktion und Reaktion zwischen beiden herzustellen,
aber auch um die Geschlechtertrennung im öffentlichen Leben
des Islam zu symbolisieren.
In dem 1999 fertiggestellten zweiteiligen Film "Soliloquy",
der in der Türkei und in den USA rea-lisiert wurde, geht
es um die Gegenüberstellung zweier Frauen in zwei Welten:
Osten und We-sten, Tradition und Moderne, Gemeinschaft und Individuum.
Auf der einen Seite ist es die verschleierte Frau im Osten, auf
der anderen Seite ist sie im Westen, in New York. Wie in einem
ungleichen Spiegelbild durchstreifen sie ihre jeweiligen Wohnorte
und beteiligen sich an religiösen Ritualen in der Kirche
bzw. in der Moschee. Die Entsprechungen der Lokalitäten stehen
dabei im Widerspruch zu den unterschiedlichen Lebensweisen und
gesellschaftlichen Strukturen.
Neshats Filme, deren Handlungen bewusst reduziert werden und auf
die Suggestivkraft der Bilder bauen, sind Ausdruck ihrer Erfahrungen
in zwei Kulturen. Schon deshalb verfolgen sie das dualistische
Prinzip. In der perfekten Mischung aus Fiktion und Wirklichkeit
veranschaulichen sie voller Respekt zwei Welten (Mann und Frau,
West und Ost, Freiheit und Fundamentalismus, Geschichte und Moderne).
Sie brauchen keine Worte, sondern berühren allein durch Bild
und Ton tiefe emotionale Schichten, stellen auf narrative Weise
Wirklichkeit dar, ohne sie selbst zu sein und bleiben am Ende
doch rätselhaft.
Ulrike Lehmann
Shirin Neshat in art 4/2000, S.24.
Shirin Neshat im Gespräch mit Geneva Anderson, in: neue bildende
kunst 1/98, S.36.
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