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We are ready to remake!
Der erweiterte Skulptur- und Spielbegriff von Erwin Wurm
in: Kunst & Unterricht, Heft 274/275, Aug./Sept. 2003, S.
70-73.
Spielen ist Experimentieren mit dem Zufall. (Novalis)
1.
Was ist eine Skulptur und was ist eine Plastik? Diese grundlegenden
Kategorien in der bildenden Kunst werden häufig synonym verwendet,
obwohl der Schaffensprozeß unterschiedlich und bereits durch
den Wortstamm vordefiniert ist: ›plastos‹ (griech.)
heißt übersetzt geformt, während ›sculptum‹
(lat.) gemeißelt heißt. Plastiken entstehen durch
den Prozeß des Hinzufügens, Skulpturen hingegen durch
den Akt des Wegnehmens.
Diese Frage nach der Definition beider Begriffe ist bedeutsam,
weil Erwin Wurm an einem erweiterten Skulpturbegriff arbeitet
und alle seine Werke Skulpturen nennt, auch die Zeichnungen, Bücher,
Fotografien und Videos. Wurm verwendet keine traditionellen bildhauerischen
Materialien, er formt heute auch kein dreidimensionales Kunstwerk
mehr, das autonom als Exponat in einer Ausstellung zu betrachten
ist. Denn mit seinen ›One Minute Sculptures‹ verbindet
er einen Menschen und einen alltäglichen Gegenstand zu einer
zeitlich befristeten Stellung, Haltung und Position, die nur in
Fotografien und Videobildern eine überzeitliche Existenz
erfahren. Die bewegungslose Aktion wird zu einer Skulptur auf
Zeit, die sich nach einer Minute wieder auflöst und verschwindet.
Allein ihr Abbild wird in jenen – für die Skulptur
eigentlich unüblichen - Medien überliefert. Insofern
erhalten die Foto- und Videobilder in Wurms Werk eine Berechtigung,
Skulptur zu sein. Sie halten die figurative, lebendige und zugleich
bewegungslose Live-Performance eines Moments auf Dauer fest und
werden so selbst zur Skulptur.
Erwin Wurm studierte von 1977 bis 1979 am Mozarteum, Salzburg,
anschließend bis 1982 an der Hochschule für angewandte
Kunst, Wien und an der Akademie der bildenden Künste, Wien.
Nach seinem Studium entstanden zunächst figürliche Skulpturen
aus Holz oder aus zusammengeschweißten Ölfässern
aus Blech, die Wurm mit einem abstrakten, informellen Gestus bemalte.
Er verwendete Materialien wie Blechtrümmer, Holzstücke,
Bretter oder Kübel, die er in seiner Umgebung fand und ohne
viel Aufwand zu bearbeiten waren. Die Figuren, die Mitte der 80er
Jahre entstanden, nahmen auf verschiedene kunstgeschichtliche
Stile Bezug. In sich gewundene Drehungen der Körper, die
Bewegung assoziieren, erinnern an den Futurismus und die durch
ihn propagierte Dynamik und Geschwindigkeit. Der malerische Auftrag
hingegen ließ mal an den figürlichen Expressionismus
der 20er Jahre erinnern, mal an den abstrakten Expressionismus
der 50er-60er Jahre.
Auch wenn Wurms Skulpturen aus dieser Zeit scheinbar nichts mit
den heutigen ›One Minute Sculptures‹ gemein haben,
sind doch einige Wege dorthin bereits angelegt. Die futuristische
Skulptur stellt die Dynamik als Gleichzeitigkeit mehrerer fließend
ineinandergreifender Bewegungsphasen dar. Z.B. die Skulptur "Der
zweite Schritt" von 1984 scheint als statische Figur ihren
Standort verlassen und über ihr "Skulptur-Sein"
hinausgehen zu wollen – hin zur Auflösung der Skulptur.
Die Figur ist in den "One Minute Sculptures" von einem
lebenden Menschen ersetzt worden, der in Aktion tritt und durch
den Augenblick der Ruhe jenen statischen Moment einer Skulptur
einnimmt.
Ab 1987 änderte sich Wurms Stil zusehends. Alltagsgegenstände
wie Blecheimer, Mülltonnen oder Wannen wurden teilweise mit
einer dünnen Blechschicht überzogen und zu einer minimalistischen
Form transferiert. Während Wurm an diesen Arbeiten bereits
die skulpturalen Fragestellungen von Hülle und Kern, Hohlraum
und Volumen, Offenheit und Geschlossenheit, Stabilität und
Instabilität interessierte, wurden diese Überlegungen
in seine Objekte übertragen, die er ab Ende der achtziger
Jahre mit Kleidungsstücken wie Hosen und Pullovern realisierte.
Zunächst wurden Blechröhren oder Sockel mit einfarbigen
Kleidungsstücken so überzogen, daß die verwendeten
Materialien gemeinsam eine abstrakte, minimalistische Form ergaben
und die Materialien selbst entfunktionalisiert wurden und in ihrer
Eigenschaft und Herkunft an Bedeutung verloren zugunsten der skulpturalen
Form von säulen- oder röhrenartigen Gebilden oder ummantelten
Kuben.
Anfang der neunziger Jahre wurde der Pullover als Hülle von
den röhren- oder kuben-artigen Kernen befreit und in seiner
Ausdrucksvielfalt thematisiert. Durch spezielle Faltungen und
Hängungen des Pullovers entfaltet sich das Textil zu einer
plastischen, weichen Form. Durch die Art, wie Wurm das Textil
auf zwei Nägel hängt, faltet und zusammenlegt, wird
es von seiner Gegenständlichkeit und Funktion befreit und
erhält die plastische Qualität eines abstrakten, monochromen
Kunstobjekts mit haptischem Reiz.
1991 entstehen parallel dazu gezeichnete Gebrauchsanweisungen,
die in einem Buch veröffentlicht wurden und die verschiedenen
Möglichkeiten der Faltungen aufzeigen. Die Gebrauchsanweisungen
mit Handhaltungen, Richtungspfeilen und handschriftlichen Bemerkungen
fordern den Betrachter zum Nachahmen geradezu auf, sich selbst
ein eigenes Kunstwerk aus Pullovern zu erstellen. Im Sinne Erwin
Wurms geht es hier weniger um das fertige Produkt, sondern um
die Handlung an sich, um den skulpturalen Prozeß, um Skulptur
als Handlung.
Wer einmal einen Pullover nach den Anweisungen von Wurm gefaltet
und aufgehängt oder eine "One Minute Sculpture"
nachgestellt hat, wird ab dann im alltäglichen Umgang jenes
Kleidungsstück anders betrachten, falten und anziehen, jeden
Gegenstand auf seine Möglichkeit, Skulptur zu sein, überprüfen
und eine Verbindung von Kunst und Alltag herzustellen. Er wird
sich immer wieder an die einmal durchgeführte Aktion erinnern.
Diese Erfahrung und Erinnerung bewirkt, daß er sich einläßt
auf das Verstehen eines skulpturalen Prozesses und durch die humorvolle
Seite, die Wurms Arbeiten äußern, auch noch Spaß
daran hat.
Durch den Aspekt der Wiederaufführbarkeit und Nachahmung
ist der Begriff des Originals obsolet geworden. Wurm entwirft
kein "ready-made", sondern "Werke die `ready to
be made´ sind."
Dieser Aufforderungscharakter, der in den Einzelwerken bis 1995
angelegt ist, wird mit den seriellen Arbeiten "do it",
"Wie ich ... mache" und den "One Minute Sculptures"
weiterentwickelt und intensiviert.
2.
Die Wiederaufführbarkeit als Abschied vom Original bedeutet
indirekt die Einführung einer spielerischen Theorie und Absicht.
Das Kunstwerk entfernt sich von der Ernsthaftigkeit, einmalig
und original zu sein und der Künstler überträgt
für eine Minute die Verantwortung zum Gelingen eines Kunstwerks
auf den Betrachter. Mit der Befolgung der Handlungsanweisung wird
der Betrachter aktiv und akzeptiert die Spielregeln. Die künstlerische
Absicht wird durch den Humor und die Skurrilität der Handlungen
zu einem spielerischen Moment des Ausprobierens und Nachahmens.
Für eine kurze Zeit ist der Betrachter der eigenen Lebenswelt
entrückt, er taucht ein in eine andere, in eine künstliche
Welt. Wer spielt, verlässt die Wirklichkeit und taucht in
eine Spielwelt ein. Spielwelten haben einen begrenzten Raum und
einen anderen Zeitbegriff.
Nur durch die spielerische Freude am Ausprobieren einer "unnormalen"
Haltung, Stellung, wird der Übergang von der Lebenswelt zur
Kunst ermöglicht bzw. akzeptiert, wird die Grenze, die Schwellenangst
überschritten. Sich zwei Gurken oder Stifte in die Nase zu
stecken oder ausgestreckte Beine aus dem Fenster herauszustrecken
ist urkomisch und im Alltag, vor anderen Leuten, würde sich
das niemand trauen. Andere Gebrauchsanweisungen die - im Übrigen
Spielregeln gleich - Schritt für Schritt per Zeichnung und
geschriebenem Wort erklärt werden, erfordern auch ein hohes
Maß an Geschick, zum Beispiel sich auf 18 Tennisbälle
zu legen, mit einem Stuhl in Schräglage zu korrespondieren
oder gestützt mit mehreren Gegenständen seitlich an
der Wand zu stehen.
Das, was ein Spiel ausmacht, was es definiert, trifft auch auf
Wurms Skulpturen mit Handlungsanweisungen zu. Wie jedes Spiel,
haben auch die "One Minute Sculptures" und vergleichbare
Werke Wurms einen Rahmen, in dem sich die spielerische Handlung
bewegt: Sie haben Regeln, ein Ziel, Beginn, Ablauf und Ende. Zum
Spielen liegt neben der Anweisung bestimmtes Material zumeist
auf Podesten bereit, die an Skulpturensockel erinnern und auf
denen sich das jeweilige Prozedere abspielt.
Der Ablauf selbst und der Ausgang werden vom Zufall bestimmt,
denn es ist nicht vorhersehbar, was dem Handelnden geschieht,
ob ihm Gegenstände noch vor der Realisierung der Skulptur
hinunterfallen oder ob das Ergebnis erzielt wird. Wie bei anderen
Spielen ist auch hier schnelle Reaktion erforderlich. Hat er dann
das Ergebnis erzielt, ist er von Erfolg gekrönt. Es gibt
einen Gewinner. In einigen Ausstellungen der letzten Zeit, in
denen Wurm seine Werke präsentiert, können die Besucher
nach Fertigstellung (im doppelten Sinn) ihre skulpturale Haltung
von einem Aufseher per Polaroid fotografieren lassen. Wer dann
noch eine bestimmte Summe auf Wurms Konto einzahlt und das Foto
schickt, erhält es von Künstlerhand signiert zurück.
Damit wird nicht nur ein Preis versprochen, sondern auch die Echtheit
einer Wurmschen Skulptur bescheinigt.
Johan Huizinga hat in seinem 1938 erschienenen Buch "Homo
ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel" eine Spieldefinition
geschrieben, die in allen Teilen auf die Realisierung einer Skulptur
Erwin Wurms durch einen Ausstellungsbesucher zutrifft: "Spiel
ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb
gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig
angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird,
ihr Ziel selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der
Spannung und Freude und einem Bewusstsein des `Andersseins´
als das `gewöhnliche Leben´". Zudem bemerkt er,
dass das menschliche Spiel "in allen seinen höheren
Formen, in denen es etwas bedeutet oder feiert, der Sphäre
des Festes und des Kults – der heiligen Sphäre"
angehöre. Diese könnte mit den musealen Räumen,
innerhalb derer Kunst als Kunst definiert ist, verglichen werden.
Gleichwohl Huizinga das Spiel eine "freie Handlung"
nennt, ist bei Wurm eine künstlerische Absicht intendiert.
Und wie ein chinesisches Sprichwort vermittelt , ist das "learning
by doing" das effektivste Lernen und Verstehen.
3.
Die prozessualen Schritte bei der Entstehung einer Skulptur wie
Wegnehmen, Hinzufügen, Volumen und Hüllen erschaffen,
kommen hier wie auch in anderen, früheren Ar-beiten zum Ausdruck.
1989/90 entstanden viele verschiedene Werke, die zugleich wegweisend
für seine Suche nach dem erweiterten Skulpturbegriff wurden.
Auch trat neben und statt den haptischen dreidimensionalen Objekten
das Medium Video.
In seinem ersten Video "Still I" von 1990, das aufgrund
der Auseinandersetzung mit skulpturaler Statik und Bewegung zur
Inkunabel für Wurms weiteres Schaffen wurde, steht ein Mann
unbeweglich in einem Raum. Dabei verdeckt eine umgestülpte
Schüssel auf dem Kopf seine Augen, um die von ihnen ausgehenden,
unvermeidlichen Bewegungen unsichtbar zu machen. Der laufende
Film suggeriert dem Betrachter jedoch, Bewegungen zu sehen. Die
relativ kurze Aufnahme wird auf ein 60minütiges Band als
Endlosschleife (Loop) wiederholt, so daß der Eindruck eines
dauerhaften Stillstehens entsteht. Durch die gedehnte Zeit wird
die Aktion zu einer (lebenden) Skulptur transformiert. Die aktionistische
Handlung bei der Gestaltung einer lebendigen Skulptur erhält
in dieser Videoarbeit eine erste Relevanz.
Für seine Ausstellung in der Wiener Akademie der bildenden
Künste richtete Erwin Wurm 1991 in der Aula einen Flipperautomaten
ein, an dem eine Person eine Woche lang täglich acht Stunden
ununterbrochen spielte. Das Spielen am Gerät erzeugte ein
nahezu eintöniges Geräusch und eine visuelle Ebene,
die – im Hinblick auf die Dauer der Zeit gesehen –
monoton erschien. Wurm führte hier eine alltägliche
Handlung durch die zeitliche Dehnung ad absurdum, die aufgrund
ihrer Eintönigkeit, Monotonie und Dauerhaftigkeit, also der
Kongruenz von visueller und akustischer Ebene, als lebende Skulptur
erschien.
Neben seinen Staubarbeiten (1990/91), die durch einen leerstehenden
Sockel mit einer rechteckigen Staubfläche einen abwesenden
(Kunst-)Gegenstand und dadurch das Moment von Dauer, Leere und
Materielosigkeit thematisieren, entsteht in ummittelbarem Zusammenhang
mit den Pulloverarbeiten 1992 das Video Fabian zieht sich an (Gesamte
Garderobe). Hier zieht ein Mann sämtliche Kleidungsstücke
an, die sich an seinem Garderobenständer befinden, bis er
als aufgeblähte, unförmig und voluminöse Gestalt
den Raum verläßt. Volumen schaffen durch Hinzufügen
und dadurch den Prozeß der Veränderung zu visualisieren
ist ein Gesichtspunkt dieser Arbeit. Ein weiterer ist, daß
durch die Entstehung von Fülle, Masse und Volumen der Mensch
als eigentlicher Träger der Kleidungsstücke zunehmend
dabei verschwindet.
Im gleichen Jahr, ebenfalls 1992 entsteht das Video 59 Stellungen.
Hier ist der Mensch als Träger von Kleidungsstücken
zwar vorhanden, aber nicht sichtbar. Während im Video Fabian
zieht sich an die Handlung als Prozeß nachvollziehbar ist,
wird die abstrakte, amorphe, "lebendige", skulpturale
Form - die durch den Menschen entsteht, der in einem Pullover
steckt und eine bestimmte Haltung einnimmt – als eine von
insgesamt 59 Stellungen gezeigt, die sich nur unmerklich bewegt
und ca. 20 Sekunden die Stellung hält. Die 20 Sekunden reichen
dazu einfach nicht aus, um die Art der Stellung herauszufinden.
Kopf und Körper verschwinden durch ungewohnte, unkonventionelle
bizarre, amorphe und bisweilen torsoartige Positionen innerhalb
des Pullovers oder Mantels, die durch Dehnungen, Überstülpen
und Hocken zustande kommen.
Die 59 Stellungen sind performative Skulpturen auf Zeit. Das Videoband
One Minute Sculpture von 1997/98 tendiert in die gleiche Richtung.
Hier werden jedoch Gegenstände verwendet, um bestimmte Haltungen
für eine kurze Dauer einzunehmen
Die im Werk inhärente Thematik der Vergänglichkeit und
Kurzlebigkeit wird von Wurm als neue Qualität und als Ausdruck
unserer Zeit geschätzt. Gleichzeitig wird damit ein neuer
Skulpturenbegriff gesetzt. Dabei erhält der Aspekt der Ironie
und des Humors eine Dimension, mit der das Schicksalhafte der
Kurzlebigkeit lächelnd zu ertragen ist, und auch das Loslassen
erleichtert wird.
4.
Erwin Wurms Skulpturen beinhalten, wie eingangs erwähnt,
zahlreiche Bezüge zur Kunstgeschichte. Seine anfänglich
futuristisch anmutenden Skulpturen, die das Element Zeit als Dimension
der Bewegung veranschaulichten, münden in "time-based-sculptures"
, die Skulptur als Prozeß in Raum und Zeit erlebbar machen,
die die Grenze zwischen Kunst und Alltag öffnen und die Distanz
zwischen Kunstwerk und Betrachter verringern und ihn selbst in
die Rolle des Künstlers versetzen. Wurm spielt damit nicht
nur auf das ready-made von Marcel Duchamp, auf die Fluxusbewegung
und die Konzept-Art an, sondern setzt vor allem die Ideen von
Joseph Beuys´ Sozialer Plastik um in die heutige Zeit.
Beuys arbeitete an einem erweiterten Kunstbegriff, er wollte Kunst
und Leben miteinander verbinden, um einen anthropologischen Zusammenhang
zu bilden, der schließlich in der Idee der "Sozialen
Plastik" mündete. Er faßte den Begriff Plastik
universell auf. Mit seiner Formel "Jeder Mensch ist ein Künstler"
unterstrich er, daß auch die Formulierung von Gedanken und
das Sprechen eine Plastik sei. Im Gegensatz zum bildhauerischen
Prozeß, der von einem festen Material ausgehe, das zu bearbeiten
ist, böte die Plastik die Möglichkeit, sich darin zu
bewegen. Er setzte Plastik mit Gestaltung gleich, in der Bewegung
eine maßgebliche Rolle spielt und sagte: "Was ist Plastik?
Ich habe versucht, eben diesen Begriff in seine Grundkräfte
aufzuspalten. Dann kommt man auf ganz klare Sachen und stellt
fest, daß der aufgespaltene Begriff von Plastik im Grunde
ein anthropologischer Begriff ist. Dann kommt man aber auch darauf,
daß dieser anthropologische Begriff von sich aus fordert,
daß ein Kunstbegriff entwickelt werden muß, der sich
tatsächlich auf jedermann beziehen kann, also zu einem echten
anthropologischen Begriff wird, zu einem Jedermannbegriff, zu
einem Begriff für den Menschen selbst, der Allgemeingültigkeit,
der objektiven Charakter hat. Dann ist man aber auch gezwungen,
einen ganz neuen Kunstbegriff auszubilden. Der heißt ganz
einfach: Wie kann jedermann, d.h. jeder lebende Mensch auf der
Erde, ein Gestalter, ein Plastiker, ein Former am sozialen Organismus
werden? ... Man arbeitet dann mit einem wirklich lebendigen Material,
während der Bildhauer ... in einem festen Material oder einem
mehr flexiblen Material arbeitet." Beuys stand damit der
Fluxusbewegung nahe, die die Grenzen zwischen Kunst und Leben
einreißen wollte und das Publikum in Aktionen und Happenings
beteiligte. Er vermisste bei der Fluxusbewegung jedoch den politischen
und theoretischen Überbau, denn er wollte mit seiner Sozialen
Plastik die Gesellschaft verändern. In der menschlichen Kreativität
sah er die revolutionäre Kraft. Die Aktion "7000 Eichen
für Kassel" anläßlich der documenta 7, 1982,
war ein fundamentaler Beitrag zur Verwirklichung seiner Idee der
Sozialen Plastik, eine Aktion, die ohne Publikumsbeteiligung gar
nicht denkbar gewesen wäre. Für Beuys war die Reproduzierbarkeit
von Kunst ein wesentliches Element zur Verbreitung der Sozialen
Plastik: Durch Auflagenobjekte sollten möglichst viele Menschen
an der Kunst teilhaben.
Erwin Wurm bezieht ebenfalls das Publikum ein. Jedermann kann
freiwillig durch Nachahmung im Denken und Handeln zum Kunstwerk
bzw. zum Künstler werden. Wie in Beuys erweitertem Kunstbegriff
sind in Wurms erweiterten Skulpturbegriff die Momente von Bewegung,
Aktion und Reproduzierbarkeit sowie die Verbindung zur Alltäglichkeit
enthalten. Die Verwandtschaft von Wurm zu Beuys ist evident. Obwohl
Erwin Wurm mit seiner Kunst nicht den Anspruch erhebt, die Gesellschaft
zu verändern, enthält sie doch den anthropologischen
Charakter einer Sozialen Plastik. Vor diesem Hintergrund wird
der Begriff der Sozialen Plastik auf Wurms erweiterten Skulpturbegriff
übertragbar. Insofern sind Wurms Arbeiten weniger Skulpturen,
sondern vielmehr Soziale Plastiken. Damit ist zugleich das traditionelle
Verständnis von einem autonomen Kunstwerk, das durch seine
Materialität ein Original ist, durch die Dimension von Zeit
und Bewegung, durch den skulpturalen Prozeß, die Entmaterialisierung,
Reproduzierbarkeit und Handlungsorientierung obsolet geworden.
Wurms Plastiken sind, wie er selbst sagt, "Partituren"
, deren Aufführung nur einen Augenblick dauert, eine Zeit
zwischen ihrem Auftauchen und ihrem Verschwinden.
Ulrike Lehmann
ERWIN WURM
59 Stellungen, 1992
60 Min., Farbe
Ausgehend von seinen Pulloverarbeiten als eigenständige
Wand- oder Bodenobjekte, in der der Mensch nur gedanklich als
potentieller Träger der Kleidungsstücke anwesend ist,
bezieht Wurm in seinem Video "59 Stellungen" den Menschen
in eine skulpturale Form ein. Der Träger eines Kleidungsstückes
nimmt eine spezielle, eher ungewöhnliche Körperhaltung
ein. Er ist jedoch selbst nicht zu sehen, sondern verschwindet
unter dem Pullover oder Mantel, den er trägt. So schlüpft
er mit den Beinen in die Pulloverarme und versteckt den Körper
im Pulloverleib. Oder er nimmt eine gebückte Haltung mit
gleichzeitig ausgestreckten Armen ein, die sich auf dem Boden
stützen.
Mit dem Video "59 Stellungen" erzielte Wurm einen durchschlagenden
Erfolg. Er verband hier die Arbeit mit Pullovern und anderen Kleidungsstücken
sowie die Auseinan-dersetzung mit eingefrorenen Bewegungen von
Akteuren zu einer sinnlich-poetischen Darstellung lebendiger und
zugleich kurzlebiger Skulpturen. Innerhalb von 20 Minuten werden
59 verschiedene Sequenzen (geloopt auf 60 Min.) von jeweils 20
sekündiger Dauer ohne Ton gezeigt, in denen der Künstler
selbst so unter den Kleidungsstücken versteckt ist, daß
der Betrachter in der kurzen Zeit kaum nachvollziehen kann, wo
sich welches Körperteil befindet. Kopf und Körper verschwinden
durch ungewohnte, bizarre, amorphe und bisweilen torsoartige Positionen
innerhalb des Pullovers oder Mantels, die durch Dehnungen, Überstülpen
und Hocken zustande kommen. So entsteht eine Spannung zwischen
Kern und Hülle. Die Kamera nimmt während der 20 Sekunden
eine statische Haltung ein. Der Betrachter sieht das Resultat,
nicht aber den Prozeß, der zu der jeweiligen Haltung führt.
Daher wird auch eine rätselhafte Spannung und Heiterkeit
erzeugt, die durch die ideenreiche Abwechslung der Bilder noch
verstärkt werden. Erwin Wurm geht es hier auch darum, die
alltägliche Handlung des Ankleidens kritisch-humorvoll zu
überprüfen und dabei möglichst viele emotionale
Reaktionen wie Peinlichkeit und Lächerlichkeit zuzulassen.
Wie seine Staubarbeiten handeln auch die ›59 Stellungen‹
von der Ambivalenz zwi-schen Sichtbarem und Unsichtbarem, Anwesendem
und Abwesendem, zeitlichem Ab-lauf und Stillstand, Zweidimensionalem
und Dreidimensionalem. Es sind künstlerische Arbeiten, die
nicht alle Informationen preisgeben, sondern durch das Verbergen
die Phantasie anregen. Die 59 Stellungen laden den Betrachter
zum Nachahmen ein und regen zum Nachdenken über Volumen und
Fläche, Hülle und Körper, Zeit und Dauer, Statik
und Dynamik als wesentliche Kriterien von Skulptur an. Diese 59
lebendigen Skulpturen auf Zeit sind Ausdruck eines neuen Verständnisses
von Skulptur, eines erweiterten Skulpturenbegriffs, der Veränderung
und Kurzlebigkeit als neue Qualität versteht.
Erwin Wurm versteht in diesem Sinne auch seine Videos, Fotos und
Bücher als Skulp-turen, denen stets eine Handlungsanweisung
zugrunde liegt und die zum Nachahmen animieren. Insofern können
Wurms Videos als "Videoplastiken" bezeichnet werden.
Auch wenn die Videos einen performativen Vorgang zeigen und dokumentieren,
können sie nicht im traditionellen Verständnis als Performance-Videos
bezeichnet werden. Denn es geht um eine durch Mensch und Kleidungsstück
gemachte, für kurze Zeit gestellte Skulptur. Anders als bei
seinen vorangegangenen Pulloverarbeiten und den gezeichneten Gebrauchsanweisungen,
bei denen die Handlung als skulpturale Dimension wichtig wurde,
ist im Video 59 Stellungen der kurzlebige Charakter einer Position
und körperlichen Stellung von scheinbar höherem Interesse.
Wurm geht es jedoch um die Auslotung der Grenzen, um eine Grenzerfahrung
zwischen Skulptur und Performance: "Im Laufe meiner Arbeit
hat sich immer mehr ein Mißtrauen an der fixierten, definierten
Form herauskristallisiert. In diesem Zusammenhang sind auch die
Fragen `Wie lange ist etwas Objekt?´, `Ab wann wird es Performance?´,
`Ab wann wird es eine Aktion?´ wichtig geworden. ... der
Grenzbereich zwischen diesen Ebenen interessiert mich." In
all seinen Arbeiten werden dabei die Entstehungsbedingungen der
Skulpturen offengelegt. Im Fall der 59 Stellungen muß der
Betrachter die verdeckten Körperhaltungen erraten. Die Anzahl
der Variationen schließlich, die sich in einer bildnerischen
Abfolge im Video zeigen, führt zu einer Beliebigkeit und
Austauschbarkeit der Skulpturen, denn schon nach 10 oder 15 Stellungen
wird der Betrachter sich kaum mehr an die erste erinnern.
Ulrike Lehmann
One Minute Sculptures, 1997/98
60 Min., Farbe
Anläßlich eines Aufenthaltes im Bremer Künstlerhaus
entstanden Skulpturen, die durch eine bestimmte Konstellation
von und mit realen Alltagsgegenständen entstanden sind.
Die jeweiligen Konstellationen waren nur von kurzer Dauer. Allzu
akrobatisch wurde das Phänomen der Schwerkraft und Instabilität
beansprucht. Daher sind es "nur" One Minute Sculptures.
Ähnlich wie im Video "59 Stellungen" sind kurze
bewegungslose Haltungen zu sehen, die jedoch den Menschen nicht
verbergen. Im Unterschied zur älteren Videoarbeit wird im
Video "One Minute Sculptures" der Entstehungsprozeß
gezeigt, der bis zum einminütigen Stillstand führt oder
auch das Scheitern dokumentiert. Da die gezeigten Haltungen zum
Teil "halsbrecherisch" und artistisch bis sportiv sind,
ist ein Ausharren, das über eine Minute hinausgeht, fast
aussichtslos. Und bisweilen kann deshalb der unternommene Versuch,
mit den Gegenständen zu jonglieren, auch fehlschlagen. Wurms
"One Minute Sculptures" oszillieren zwischen Erfolg
und Mißerfolg, zwischen alltäglichem Handeln und dessen
parodistischer Defunktionalisierung, zwischen Kunst und Alltag,
Verletzbarkeit und Kurzlebigkeit.
So streckt ein Mann seine Beine aus einem umgedrehten Skulpturensockel
in die Höhe. Eine Frau liegt mit ausgestreckten Armen und
Beinen auf Apfelsinen. Der liegende Körper und das orangefarbene
Obst weckt Assoziationen des Vertrauten. Die Stellung selbst ist
allerdings unvertraut. Insofern hilft die Vertrautheit dem Betrachter,
ins Werk einzusteigen. Durch die ungewohnte Stellung wird das
Vertraute wieder entzogen. Die Instabilität der Position
bringt Spannung und Dynamik ins Geschehen, das eigentlich einen
kurzen Stillstand darstellt. Fasziniert von der ungewöhnlichen
Liegeposition, aber auch wissend, daß diese skulpturale
Position nur von kurzer Dauer sein kann, kann der Betrachter sich
gleich, in der nächsten Minute, auf eine neue skulpturale
Darstellung einlassen, auf den "snapshot" einer "time-based-sculpture",
auf den Moment, wo das Brötchen zwischen Tür und Zarge
klemmt, Stifte und Filmdosen in den Gesichtsöffnungen Nase,
Mund und Ohren stecken oder ein Mann sich auf zwei Besen stützt,
während seine Beine im Bücherregal liegen.
Auch diese Skulpturen sollen zur Nachahmung anregen. Durch den
Aspekt der Wiederaufführbarkeit und Nachahmung ist der Begriff
des Originals obsolet geworden. Wurm entwirft kein "ready-made",
sondern Werke, die "ready to be made" sind.
Die zunächst 48 Fotos und ein Video umfassende Serie "One
Minute Sculptures" wurde 1998 in einem Katalogbuch dokumentiert.
Ulrike Lehmann
Jérôme Sans: Der Nullpunkt
der Skulptur, in: Erwin Wurm, Ausst.kat. Museum moderner Kunst
Stiftung Ludwig, Wien; Kunstmuseum St. Gallen, Kunstverein Freiburg,
1994, S. 62.
"I hear and I forget. I see and I remember. I do and I understand.”
Der Begriff "time-based-sculptures" stammt von John
Laham und ist zitiert nach Hans-Ulrich Obrist, in: Ausst.kat.
Erwin Wurm, Galerie Krinzinger und Galerie Tanya Rumpff, Wien
1996, S.4.
S. 8.
Vgl. Heiner Stachelhaus: Joseph Beuys, Düsseldorf 1988, S.
89 f.
Joseph Beuys im Interview von Rainer Rappmann, in: Volker Harlan,
Rainer Rappmann, Peter Schata: Soziale Plastik. Materialien zu
Joseph Beuys, Achberg 1984, S. 20.
Erwin Wurm, in: 22° c Raumtemperatur. Ein Gespräch von
Alexander Braun, in: Kunstforum International, 131, Aug.-Okt.
1995, S. 298.
Erwin Wurm im Gespräch mit Hans-Ulrich Obrist, März
1996, in: Ausst.kat. Erwin Wurm, Galerie Krin-zinger und Galerie
Tanya Rumpff, Wien 1996, S.4.
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